Kanzlei Freudenreich

Individuelle Vertragsanpassung im Lockdown möglich!


1. Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage kommt bei covid-10-bedingter Geschäftsschließung aufgrund hoheitlicher Maßnahmen grundsätzlich in Betracht.
2. Die Prüfung der Unzumutbarkeit verbietet eine pauschale Betrachtung; maßgeblich sind sämtliche Umstände des Einzelfalls, einschließlich finanzieller Vorteile, die der Mieter aus sämtlichen, ihm möglichen, auch staatlichen Hilfeleistungen erlangt. Hierbei sind konkrete Feststellungen zu treffen, welche wirtschaftlichen Auswirkungen die Geschäftsschließung hatte und ob deren Ausmaß eine Anpassung erforderlich macht.

BGH v. 12.01.2022 XII ZR 8/21
§§ 275 I, 313 I, 326 I, 536 I Satz 1 EGBGB Art. 240 §§ 2 u. 7

Problem/Sachverhalt

Covid-19-bedingt kündigt der Mieter an, die Miete für April 2020 nicht zahlen zu wollen und rechnet teilweise mit gezahlten Märzmiete wegen des ersten Lockdowns (19.03.-19.04.2020) auf. Der Vermieter erhebt Klage, das Landgericht gibt der Klage statt, das OLG Dresden (IMR 2021, 190) bejaht die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung und hält eine Reduzierung der Miete um 50% für angemessen. Mieter und Vermieter legen Revision ein.

Entscheidung

Der BGH bejaht, wie zuvor das OLG, das Vorliegen der realen und hypothetischen Tatbestandsmerkmale von § 313 I BGB, das Risiko pandemiebedingter Gebrauchs-beeinträchtigungen treffe keine der Mietvertragsparteien allein (Rn. 57). Bei der Zumutbarkeitsprüfung hebt der Senat das Urteil wegen Rechtsfehlern auf, mit der Begründung, Anpassung des Mietvertrages könne verlangt werden, wenn durch die Covid-19-Pandemie die große Geschäftsgrundlage, d.h. die grundlegenden, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen im Sinne einer existenziellen Erschütterung betroffen ist. Art. 240 § 7 EGBGB komme nur Vermutungswirkung zu, da er auf das reale Element des § 313 I BGB abstelle, das bei Störung der großen Geschäftsgrundlage ohnehin erfüllt sei (BGHZ 223, 229). Die Realisierung des hypothetischen Elements bejaht (besser unterstellt) der BGH hier mit einer Redlichkeitsvermutung bei Vertragsabschluss. Durch die Covid-19-Pandemie habe sich letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, das von der mietvertraglichen Risikoverteilung im Regelfall nicht erfasst werde. Diese Systemkrise mit ihren weitreichenden Folgen führe vielmehr zu einer Störung der großen Geschäftsgrundlage, so dass das damit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden könne (anders OLG Frankfurt, IMR 2021, S. 191, mit dem Hinweis, dass der Vermieter dieses Risiko nicht zu tragen habe!).
Bei der Abwägung sind zunächst die Umsatzrückgänge anhand des konkreten Mietobjektes zu prüfen, wie auch die Maßnahmen, die der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern. Hierbei sind grundsätzlich sämtliche finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen erlangt haben konnte, mit Ausnahme derjenigen, die auf Darlehensbasis gewährt wurden. Eine Überkompensation lehnt der BGH ebenso ab, wie das Erfordernis einer Existenzgefährdung des Mieters. Jedoch trägt der Mieter die Beweislast dafür, dass er sich um mögliche Hilfeleistungen vergeblich bemüht habe, gelingt ihm dies nicht, muss er sich so behandeln lassen, als hätte er die staatlichen Unterstützungsleistungen erhalten.

Praxistipp

Abschließend stellt der BGH mit seiner Marschrute klar, dass bei der gebotenen Abwägung auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen sind, so insbesondere eine etwaige Vollfinanzierung des Mietobjektes (ebenso OLG Frankfurt aaO. S. 457). Interessant bleibt auch der Gedanke, dass die vollständige Zahlung der Mieten im weiteren Verlauf des Jahres Zweifel an der Erheblichkeit des Umsatzrückgangs aufwirft und damit an der Unzumutbarkeit zweifeln lässt. Vermieter bleiben daher gut beraten, wenn sie die Behauptung, dem Mieter seien keine staatlichen Unterstützungsleistungen zugeflossen, bestreiten, denn hierfür trägt der Mieter die Beweislast.

RA Michael E. Freudenreich, Ffm.

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