Kanzlei Freudenreich

Räumungsvollstreckung u. Suizidgefahr


1. Einstellung der Räumungsvollstreckung scheidet aus, wenn der Gesundheitsgefahr durch ärztliche Maßnahmen begegnet werden kann.
2. Auch Unterrichtung der zuständigen Sicherheitsbehörden (Landratsamt) über die Zurückweisung/Nichteinstellung kann genügen.
3. Zum (geringen) Schutzbedürfnis des verschwiegenen Mitbesitzers.

LG Traunstein Beschl. v. 16.05.2022 Az. 4 T 1275/21
§ 765a ZPO

Problem/Sachverhalt

Die Gläubigerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus notarieller Kaufvertragsurkunde in das Wohnhaus der Schuldner. Schuldner 1 hat sich freiwillig, notarvertraglich gegen Kaufpreiszahlung der Zwangsvollstreckung unterworfen; Schuldner 2 wird verheimlicht. Beide Schuldner beantragen die einstweilige Einstellung der Zwangsräumung beim Amtsgericht, aber erfolglos.
Im Rahmen der Beschwerde wird vorgetragen, dass zusätzliche, schon bestehende psychische Beeinträchtigungen des Schuldners durch das Vorgehen der Gläubigerin, aktive Suizidgedanken beim Schuldner aufwerfen würden.

Entscheidung

Die Beschwerde weist das Landgericht nach umfangreicher Gutachtenserstellung zurück.
Die Voraussetzungen des § 765a ZPO liegen nicht vor. Zwar verpflichtet das Grundrecht aus Art. 2 II Satz 1 GG die genaue Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO unter Berücksichtigung der Gefahren für Leben und Gesundheit unter Wahrung der Gläubigerinteressen an der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (BGH Beschl. v. 04.05.2005 Az. I ZB 10/05). Eine Einstellung scheide aber dann aus, wenn der Gesundheitsgefahr durch begleitende, auch ärztliche Maßnahmen (zus. LG Frankfurt NZM 2015, 267-270 m.N.) oder einen stationären Aufenthalt (BGH NZM 2010, 915) begegnet werden könne.
Dies ist dann der Fall, wenn aus der im Gutachten skizierten Persönlichkeitsstruktur (nur) eine narzisstische Kränkung des Räumungsschuldners als mögliche Suizidmotivation deutlich wird, aber keine Hinweise auf eine so starke Ausprägung der Persönlichkeitsstruktur vorlägen, dass von einer zwangshaften Persönlichkeitsstörung ausgegangen werden müsse. Wenn der Schuldner sich nicht vorrangig wegen der Räumung, sondern vielmehr durch die von ihm als ungerechtfertigt angesehene niedrige Kaufpreisgestaltung belastet fühle, sei dies ein Hinweis, dass rationale Überlegung über den Wert des Anwesens im Vordergrund stünden und die ideelle Bindung zum Anwesen zurücktrete. Das reduziert den Suizidverdacht, ebenso wie die Härtefallvermutung deutlich!
Eine konkrete lebensbedrohliche Gesundheitsgefährdung bei Räumung sei nicht zu objektiveren und könne bei konsequenter Behandlungsbereitschaft des Schuldners durch ambulante oder nervenärztliche Behandlung in Form einer stützenden Psychotherapie gemildert werden kann. Dem Schuldner ist es grundsätzlich zuzumuten, selbst alles Erdenkliche zu tun, um Risiken auszuschließen oder zu verringern (BVerG NJW 2005, 3414 L BGH NJW 2008, 1000; AG Bochum v. 27.06.2022, Az. 53 M 1760/22).

Praxistipp

Im Rahmen der Zurückweisung hat die Kammer für den Fall einer Dekompensation auf Schuldnerseite die zuständigen Sicherheitsbehörden informiert, um Abhilfemaßnahmen -auch im Rahmen des (Bay)PsychKHG- anordnen zu können.
Das Schutzbedürfnis der vom Räumungstitel nicht erfassten (verschwiegenen) Mitbesitzerin wiegt dagegen deutlich geringer, als dasjenige des Titelschuldners selbst. Dies gilt umso mehr, wenn es dem Schuldner 1 unbenommen bleibt, den pflegebedürftigen Schuldner 2 in andere Räumlichkeiten mitzunehmen oder in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen. Weigern sich der/die Schuldner derartige Maßnahmen zu ergreifen, macht sie dies nicht schutzwürdiger, ein Härtefall wird letztlich auch wegen des aus freiem Willen geschlossenen Kaufvertrages verneint. Denn der Räumungsschuldner ist stets gehalten, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Risiken, die für ihn im Fall der Vollstreckung bestehen, zu verringern (BGH aaO. I ZB 10/05).
Varia: Insbesondere ist es vom Räumungsschuldner zu erwarten, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für sich selbst oder seine mit ihm gemeinsam in dem zu räumenden Objekt lebenden Angehörigen möglichst auszuschließen.
Insbesondere ist es dem Schuldner zuzumuten, fachliche erforderlichenfalls auch durch einen stationären Aufenthalt in einer Klinik in Anspruch zu nehmen, um die „Selbsttötungsgefahr“ auszuschließen oder zu verringern (BGHZ 163, 66, 74; BGH NJW-RR 2010, 1649 Rn. 11). Ist dem Schuldner bereits seit längerem bekannt, dass er räumen muss, so hätte er daher genug Zeit, sich ärztlicher Hilfe zu versichern, um Gefahren für Laib und Leben für sich abzuwenden (AG Bad Oeynhausen v. 17.06.2022, 14 M 479/22).

RA u. FA f. Miet- u. Wohnungseigentumsrecht
Michael E. Freudenreich, Ffm.

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